Charta der deutschen Heimatvertriebenen

Unverständliche Angriffe

Am 5. August 1950 unterzeichneten die Vertreter der deutschen Vertriebenen die Charta der Heimatvertriebenen, die einen Tag später öffentlich verkündet wurde. Wegen einiger bahnbrechenden Aussagen galt das Dokument über Jahrzehnte als wegweisend für ein friedliches Zusammenleben der Völker, ja für eine Aussöhnung.

In einem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU und FDP an den Bundestag nannten sie die Charta als wesentlichen Meilenstein auf dem Weg zu Integration und Aussöhnung. Der Bundestag nahm diesen Antrag mehrheitlich an und sprach sich damit am 15. Februar 2011 für die Einführung eines Vertriebenengedenktages aus. Es dauerte jedoch noch bis August 2015 ehe die Bundesregierung den Beschluss umsetzte, allerdings nur eingebettet in den Weltflüchtlingstag am 20. Juni.

Aussagen der Charta sind zukunftsweisend

Der Verzicht auf Rache und Vergeltung, das Bekenntnis zu einem geeinten Europa, das Versprechen, am Wiederaufbau Deutschlands und Europas teilzunehmen sowie der Aufruf an die Völker, das Weltproblem der Vertreibung zu lösen, sind Aussagen, die zu dieser Zeit noch niemand ausgesprochen hatte. Sich über die persönliche Betroffenheit hinwegzusetzen und einprägsame Worte der Versöhnung zu finden, kann nur höchsten Respekt finden. Man sollte daran erinnern, dass die Verfasser der Charta eben erst ihre Heimat verloren und das grausame Geschehen von Flucht und Vertreibung noch vor Augen hatten. Die Vertriebenen waren ihrer Zeit voraus. Mit Weitsicht hatten sie erkannt, dass der Weg zu Frieden und Freiheit dauerhaft nur zu gewinnen ist, wenn die Völker zu einem Miteinander finden. Ihnen war klar, der Kreislauf von Rache und Gewalt muss durchbrochen werden. Sie sahen dafür als eine Voraussetzung ein geeintes Europa.

Gegner der Charta greifen die Aussagen an

Kaum jemand hatte sich vorstellen können, wie übel die Charta nach 60 Jahren angegriffen würde. Leider gibt es bei uns Kräfte, denen es ein Dorn im Auge ist, wenn über deutsche Opfer gesprochen wird. Sie sehen darin u. a. die Gefahr einer Relativierung deutscher Schuld.

Die linke Tageszeitung „taz“ nannte die Charta einen unmoralischen Verzicht. Man könne nur auf etwas verzichten, was einem legitimerweise zusteht. Ein Recht auf Rache und Vergeltung gäbe es nicht. Diese Kritik erstaunt nicht, denn sie kommt von einem Blatt, das als alternative Zeitung für die linksradikale Bewegung gegründet wurde und auch heute ihrer linken Linie treu bleibt. Dass ihre Vertreter häufig im sonntäglichen Presseclub (Erstes Deutsches Fernsehen) zu Gast sind, überrascht bei der Tendenz des öffentlich-rechtlichen Fernsehens aber nicht wirklich.

In der Sache bleibt die Frage, hatten die Vertriebenen nicht gerade selbst Rache und Vergeltung erlebt? Waren Rache und Vergeltung nicht über Jahrhunderte üblich mit der Folge, dass Feindschaften weiter schwelten? Ein Verzicht darauf war im Jahr 1950 darum weder verwerflich noch eine Anmaßung. Warum wird die Rache an den Vertriebenen nicht zum Thema gemacht?

Auch das linksliberale Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ stieß in seiner Online-Ausgabe am 15. Februar 2011 in das gleiche Horn wie die „taz“.

Zitiert wurde aus einem Aufruf von 68 Historikern und Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland, die den Beschluss des Bundestages vom 15. Februar 2011 für einen Vertriebenengedenktag als falsches politisches Signal bezeichneten, weil darin ein Bezug zur Charta enthalten sei. Sie kritisierten vor allem, dass das Wort „Versöhnung“ darin nicht vorkomme, nichts über die Ursachen des Krieges, die nationalsozialistischen Massenverbrechen, den Mord an den Juden und anderen sowie kein Wort zum Generalplan Ost, der die Vertreibung von Millionen von Slawen vorsah, gesagt werde.

Es gibt kein Recht auf Rache

Warum kann man nicht an das eigene Leid erinnern, ohne eine Gegenrechnung aufmachen zu müssen?

Zum 75. Jahrestag des Warschauer Aufstandes 1944 hat Polen dabei an hunderttausende ermordete Deutsche oder Millionen Vertriebener erinnert, für die Polen Verantwortung trägt?

In dem Aufruf der Kritiker heißt es auch, Polen und Russen müssten es wie Hohn empfinden, wenn die Charta die Heimatvertriebenen als die vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen bezeichnet. Die Aufrechnung wird sogar so weit getrieben, dass die eigentliche Schuld an der Vertreibung den Deutschen selbst zugeschoben wird, denn sie haben den Krieg entfesselt. Man würde zudem Ursache und Wirkung verkennen, so wird weiter schwadroniert.

Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) vermisste außerdem das Bekenntnis zu dem massenhaften Vertreiben anderer Völker durch Deutsche. Er vergaß jedoch den Hinweis darauf, dass alle nach dem Krieg wieder zurückkehren durften.

Bei alledem wird deutlich: Wenn es um deutsche Opfer geht, erfolgt Aufrechnung und Relativierung. Verbrechen anderer werden kleingeredet, um Verständnis wird geradezu geworben.

Aussagen der Kritiker richten sich selbst

Der SPD-Politiker Peter Glotz, einer der wenigen Unterstützer seiner Partei für das Zentrums gegen Vertreibungen, setzte sich in einer Rede am 1. September 2001 mit den Thesen der Gegner auseinander: „Kein Unrecht rechtfertigt anderes Unrecht. Verbrechen sind auch Verbrechen, wenn ihnen andere Verbrechen vorausgegangen sind. Das Denkmodell einer gerechten Strafe ist korrupt“, so seine Kernaussagen.

Unter Verweis auf eine Entscheidung des französischen Parlaments über den Völkermord an den Armeniern 1915 stellte Glotz fest: Der Beschluss des französischen Parlaments ist weder unzeitgemäß noch lächerlich, denn es geht darum, zukünftigen Völkermorden vorzubeugen. Denn das ist es, was Völkermörder fürchten, dass man ihre Taten nicht vergisst.

Briefmarke der Deutschen Post zum 40. Jahrestag der Charta der Heimatvertriebenen (Foto: Deutsche Bundespost)

Individuelle Schuld statt Kollektivschuld

Was haben unschuldige Deutsche, Kinder oder im Widerstand gegen das NS-Regime stehende Menschen für eine Schuld auf sich geladen? Auch sie traf die Kollektivstrafe, sie wurden von der Vertreibung, Zwangsarbeit und Lagerhaft nicht verschont. Eine Denkweise, die ahndet wegen der Volkszugehörigkeit zu einer Nation, ist zutiefst nationalistisch, rassistisch und menschenfeindlich. Diese Merkmale sind stets die Ursache für Vertreibungen.

Dass Vertreibungen die natürlich Folge von Kriegen sind ist falsch, wird aber immer wieder gegen uns ins Feld geführt.

Unser Menschenbild widerspricht einer Kollektivschuld, wer anders handelt, stellt sich außerhalb unseres Grundgesetzes. Alle, die unsere Charta für unmoralisch halten, sollten sich fragen, wie unmoralisch sie sich selbst äußern, wenn sie die Vertreibung in Zusammenhang stellen mit vorangegangenen Fakten, die Vertreibung dadurch relativieren oder verständlich machen wollen.

Die Charta bleibt unsere Weisung

Lassen wir uns von linken Wadenbeißern nicht beirren. Die Charta hat außenpolitische Wirkung entfaltet. Sie hat dazu beigetragen, einen Kurs hin zur europäischen Einigung und Verständigung einzuleiten.

Allerdings ist anzumerken, dass die ausgestreckte Hand der Vertriebenen nicht den Erfolg gebracht hat, der angemessen wäre. Peter Glotz fragte: „Wo ist das Recht der Vertriebenen?“. Er fährt fort: „Die Mehrheit der Deutschen will ihre Ruhe haben, die Alliierten des 2. Weltkrieges haben die Vertreibung in Potsdam gebilligt und wollen keine Diskussion dieser Schuld“, die alle Menschenrechte und das Völkerrecht missachtete, so ist hinzuzufügen.

Die Vertreiberstaaten, ausgenommen Rumänien, Serbien und Ungarn, zeigen keine Neigung, sich zu ihrer Schuld zu bekennen.

„Was wir brauchen“, so gab uns Glotz mit auf den Weg, „ist eine bundesweite oder gar europäische Debatte über Vertreibung, Ethnonationalismus und Fremdenhass“. Er sagte dies angesichts der schrecklichen Vorgänge in Ex-Jugoslawien.

Unsere Gegner werden auch diese Diskussion verhindern wollen, wie sie auch gegen das Zentrum der Vertreibungen polemisieren bzw. gegen die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Hierin sehen sie ebenfalls die Gefahr einer Schuldverkleinerung der Deutschen.

Darum geht es aber nicht. Es geht um das Recht einer Opfergruppe, ihr Schicksal zu würdigen. Dies reicht in unsere heutige Zeit und darüber hinaus.

George W. Bush nannte in seinem ersten Präsidentenwahlkampf die Vertreibung der Deutschen als einen der schlimmsten Fälle kultureller Ausrottung. Es ist an uns und unseren Nachkommen, dieser kulturellen Ausrottung entgegenzuarbeiten, die Kultur der Vertreibungsgebiete, wie das Gesetz es fordert, im Bewusstsein zu erhalten.

Die Charta ist als bleibende Mahnung zu begreifen, Vertreibung, ethnische Säuberung, den Raub der angestammten Heimat anzuklagen, damit diese künftig geächtet werden.

Es ist unsere Pflicht, das Vermächtnis der Charta zu erfüllen.

Rudi Pawelka